Erleichterter Zugang zum EU-Markt oder Gefahr für die direkte Demokratie? Die Verträge zwischen der EU und der Schweiz geben zu reden

Ein Abkommenspaket zwischen der Schweiz und der EU soll die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder stabilisieren und weiterentwickeln. Die momentan ausgehandelten Verträge betreffen auch zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens wie Strassen- und Luftverkehr, Landwirtschaft und Lebensmittelsicherheit, Strom und Gesundheit. Ihre Übernahme hätte weitreichende Auswirkungen, die – etwa in finanzieller Hinsicht – momentan noch nicht abschätzbar sind.

2021 hatte der Bundesrat beschlossen das Rahmenabkommen EU-Schweiz, auch als Institutionelles Abkommen (InstA) bezeichnet, nicht weiterzuverfolgen und stattdessen ein Paket an Abkommen und Vereinbarungen anzusteuern, das nun vorliegt. Die wesentlichen institutionellen Aspekte, die bei InstA als zu eng bemängelt wurden, sind nun in jedem einzelnen Vertrag des Abkommens analog vorhanden.

Die Befürworterinnen und Befürworter der nun vorliegenden Verträge loben diese einzelnen Verträge und erhoffen sich von diesem sektoriellen Ansatz in einzelnen Themenbereichen – je nach Interessenslage – Sonderregeln durch Schutzklauseln oder Opting-Out-Möglichkeiten. Dies soll dem Bundesrat mehr Flexibilität bei den Verhandlungen mit der EU ermöglichen, ohne, dass bei Meinungsverschiedenheiten gleich das ganze Abkommen scheitert. 

Kritische Stimmen halten die Bezeichnung der Bilateralen III für diese neuen EU-Verträge für falsch, weil sie vorgeben würden, dass damit der bisherige bilaterale Weg weitergeführt würde. Sie schätzen diese neuen EU-Verträge jedoch als viel weitreichender ein, weil sie die Schweiz deutlich stärker institutionell an die EU binden.  

Während die SVP die Verträge rundum ablehnt, halten alle anderen grossen Parteien dieses Vertragswerk mit der EU für essentiell.

Die Grünen erhoffen sich von der EU einen besseren Umweltschutz und mehr Biodiversität aufgrund der strengeren EU-Gesetzgebung in diesem Bereich. Die Wichtigkeit zur Stabilisierung der Wissenschafts- und Wirtschaftsbeziehungen zur EU werden betont, sowie der Zugang zu Bildungs-und Forschungs-Programmen wie Erasmus+ und Horizon Europe. Schweizer Forscherinnen und Forscher haben seit Anfang 2025, also seit dem Abschluss der Verhandlungen mit der EU, einen nahezu uneingeschränkten Zugang zu den Forschungsprogrammen. Langfristig ist eine Vollassoziierung jedoch nur vorgesehen, wenn die Schweizer Stimmbevölkerung den EU-Verträgen dereinst zustimmt.  

Die Basis der SP wünscht sich Freundschaft unter den Völkern und sorgt sich einzig über ein mögliches Lohndumping. Ausserdem bestehen berechtigte Hoffnungen auf sozial weitergehende gesetzliche Grundlagen, etwa beim Mutterschutz. Die SP Schweiz betont die Wichtigkeit von Rechtssicherheit und stabilem Zugang zum EU-Binnenmarkt, befürwortet neue Abkommen wie das Strom- und Gesundheitsabkommen, sowie die Teilnahme an den EU-Forschungsprogrammen. Sie unterstützt das Paket jedoch nur unter der Bedingung, dass wichtige Anliegen wie der Lohnschutz, der Service public (insbesondere im Strom- und Bahnbereich) und die Souveränität der Schweiz gewährleistet werden. Die weitgehende Übernahme von EU-Recht wird von der SP kritisiert und mit der Initiative zum Lohnschutz gefordert, dass die Schweiz weiterhin die Möglichkeit hat, die übernommenen Regeln zu ändern. 

Linksbündig befürwortet wie die Gewerkschaften die vorgesehene Stärkung der Arbeitnehmerrechte (bspw. Ausbau des Kündigungsschutzes) durch die EU-Verträge. Es ist allerdings zu befürchten, dass diese Teile des Vertragswerkes den parlamentarischen Prozess aufgrund der rechtsbürgerlichen Mehrheit nicht unbeschadet überstehen. 

In den nun diskutierten Verträgen ist vorgesehen, dass die Schweiz die zahlreichen EU-Ausführungsverordnungen der letzten Jahrzehnte übernimmt und dies würde, zusammen mit der sogenannten dynamischen Rechtsübernahme enorme Auswirkungen auf die Schweizerische Gesetzgebung haben: es müssten drei neue Gesetze ausgearbeitet werden und 35 bestehende benötigten eine Angleichung an die EU Gesetzgebung, v.a. im Ausländerrecht. Die Schweiz müsste vier verschiedene Verpflichtungskredite sprechen und es wäre auch ein Bundesbeschluss zur «Etablierung einer parlamentarischen Zusammenarbeit» nötig. 

Die "dynamische Rechtsübernahme" ist eine irreführende Formulierung und betrifft Änderungen in der Gesetzgebung, die erst nach dem Abschluss der Verträge entstehen. Sie bedeuten aber faktisch die Übernahme von EU-Recht, was der direkten Demokratie widerspricht.

Wenn die Schweiz neue Gesetze übernehmen müsste, kann – falls mit 50'000 Unterschriften das Referendum ergriffen wird – das Volk darüber abstimmen. Bei einer Verfassungsänderung braucht es zwingend eine Volksabstimmung. Laut Bundesrat wird die direkte Demokratie nicht eingeschränkt, die EU müsse das Referendums- und Initiativrecht akzeptieren. Wird jedoch ein EU-Gesetz in einer Volksabstimmung abgelehnt, kann die EU sogenannte Ausgleichsmassnahmen gegenüber der Schweiz ergreifen. Es würden Ausgleichszahlungen fällig, was die oben erwähnte finanzielle Unsicherheit der Verträge nochmals erhöht, oder der Schweiz kann der Zugang zu einem Gremium oder einer Institution innerhalb dieses Vertrages verweigert werden. Während der Referendumsdebatte weiss das Stimmvolk möglicherweise noch nicht, welchen Preis ein Nein haben wird. 

Durch das "Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union über die Gesundheit" würde die Schweiz in die verschiedenen Gefässe der EU-Gesundheitspolitik eingebunden. Das gäbe Zugang zur Krisenkoordination und auch zu den Programmen EU4Health, wofür die Schweiz sensible Gesundheits- und Personendaten liefern und die EU-Vorgaben übernehmen soll. 

Bei einer nächsten Pandemie wäre kein eigener Weg (kürzer dauernde Massnahmen, o.ä.) in der Schweiz möglich, sondern EU-Richtlinien müssten eingehalten werden. Auch hier verliert die Schweiz viel Autonomie, würde in gesundheitsrelevanten Gremien sitzen, allerdings ohne Stimmrecht. Mit diesem Gesundheitsabkommen würde auch die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt: der Digital Service Act (DSA) der EU hat die Aufgabe Informationen im Netz zu zensieren; kritische Argumente und Meinungen würden vermehrt als Desinformation beurteilt, verboten und auch bestraft. Wer entscheidet, was oder wer vertrauenswürdig ist? In Deutschland laufen bereits Strafverfahren, die gestützt auf den DSA erfolgen. Der DSA würde die Meinungs-, Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Schweiz massiv einschränken. 

Mit dem Pandemievertrag und den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) versucht die WHO die Gesundheitspolitik der einzelnen Staaten von oben zu bestimmen, was bisher kaum öffentlich diskutiert wurde. Die erweiterten IGV sind am 19. September in Kraft getreten, auch für die Schweiz. Aufgrund eines Vorbehaltes gelten die Zensurbestimmungen der erweiterten IGV jedoch nicht in der Schweiz. Mit Annahme des EU-Gesundheitsabkommens wäre dieser Vorbehalt hinfällig. 

Die EU-Verträge enthalten in mehreren Bereichen jede Menge Diskussionsstoff. Der Schweizer Historiker Oliver Zimmer empfiehlt eine vergleichende Demokratieanalyse, etwa in Lesezirkeln. Er stellt eine zunehmende Supranationalisierung der Politik fest, die sich daran zeigt, dass Menschen immer weniger zu sagen haben im Bund, im Kanton und in der Gemeinde und die soziale Spaltung befördert wird. Durch eine institutionelle Anbindung an die EU könnten die verfassungsmässig garantierten Volksrechte nicht mehr umgesetzt werden und in der Schweiz gäbe es eine blosse Formaldemokratie. 

Linksbündig ist dagegen, falls die Schweiz so weitreichend EU Recht übernehmen und auch Zensurvorschriften der WHO umsetzen müsste – beides überstaatliche Organisationen, deren Vertreterinnen und Vertreter wir nicht wählen und deren Themen wir nicht mitbestimmen können.

Die vorliegenden, über 1800 Seiten umfassenden EU-Verträge und die noch umfangreicheren dazugehörenden Verordnungen erfordern eine vertiefte und kritische Auseinandersetzung.

 

Susan

für Linksbündig

  

Quellen: 

Raphaela Birrer:  Wir sollten vorsichtig «Ja, aber» sagen. Tages-Anzeiger vom 1.11.2025, S. 7.

Katharina Fontana: Oliver Zimmer: «Es entwickelt sich eine soziale Zweiteilung in der Schweiz – man muss nicht Sozialist sein, um das zu erkennen». NZZ-online vom 21.10.2025.

https://archive.is/I96Bx#selection-203.0-229.0

Thomas Kaiser: EU-Verträge – «Die EU diktiert, die Schweiz übernimmt», Interview mit der Rechtsanwältin Andrea Staubli, Zeitgeschehen im Fokus am 21.10.2025.

https://zgif.ch/2025/10/21/eu-vertraege-die-eu-diktiert-die-schweiz-uebernimmt/

 
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